Sexualstrafrecht: Wie wahrscheinlich ist ein Freispruch?

Im Sexualstrafrecht sind Aussage gegen Aussage-Konstellationen keine Seltenheit. Die Beweislage ist oft dünn, der Ausgang des Verfahrens ungewiss. Diese Ausgangssituation führt dazu, dass Verfahren im Sexualstrafrecht für Betroffene häufig unberechenbar erscheinen.

Beschuldigte, denen vorgeworfen wird, eine Sexualstraftat begangen zu haben, fragen sich zurecht, welchen Ausgang sie im Ermittlungs- und Gerichtsverfahren gegen sich erwarten können. Neue statistische Erkenntnisse zum Sexualstrafrecht* zeigen, dass die Quote an Freisprüchen bei Sexualdelikten hoch ist. Dies ist jedoch keine Garantie für Beschuldigte, denn trotz der hohen Quote an Freisprüchen führt die überwiegende Zahl der Gerichtsprozesse zu einer Verurteilung.

Wie viele Freisprüche gibt es bei Sexualdelikten?

In keinem Bereich des Strafrechts ist die Quote an Freisprüchen so hoch wie im Sexualstrafrecht: Bei dem Vorwurf der Vergewaltigung (§ 177 Abs. 6 StGB) liegt die Zahl der Freisprüche bei etwa 25 %, bei sexueller Belästigung (§ 177 Abs. 1 StGB) sind es sogar 30 %. 

Hinzu kommen die Fälle, in denen es gar nicht erst zu einer Hauptverhandlung kommt und die Staatsanwaltschaft schon vorher die Einstellung des Verfahrens angeordnet hat – hier muss der Beschuldigte nicht erst von einem Gericht freigesprochen werden.

In den meisten untersuchten Fällen im Jahr 2015 kam es aus tatsächlichen Gründen zu einem Freispruch. Besonders häufig fehlte es dabei am damals noch erforderlichen Nötigungsmittel – welches entweder nicht nachweisbar war oder aber erwiesenermaßen nicht vorlag.

Seit der Strafrechtsreform im Jahr 2015 kommt es jedoch auf ein solches qualifiziertes Nötigungsmittel nicht mehr an, sondern auf den „erkennbar entgegenstehenden Willen“. Doch auch dies führt zu erheblichen Problemen in der Praxis. 

In analysierten Urteilen konnte festgestellt werden, dass viele Beschuldigte bei Widerstand des Opfers die Handlungen sofort beendeten. Auch waren sich die Opfer in vielen Fällen nicht mehr sicher, ob sie einen entgegenstehenden Willen geäußert hatten oder ob dieser auch für den Beschuldigten sicher erkennbar war. 68 % der Freisprüche beruhten sogar darauf, dass das ganze Geschehen oder die Täterschaft des Angeklagten sich nicht bestätigten. Ob nach der neuen gesetzlichen Regelung weniger Verfahren ohne Verurteilung ausfallen würden, bleibt daher fraglich.

Warum kommt es zu Freisprüchen bei Sexualdelikten?

Die Gründe für eine Freisprüche im Sexualstrafrecht sind vielseitig, lassen sich jedoch grob in Kategorien untergliedern: 

1.    Fehlende Tatbestandsmerkmale: In den meisten Fällen fehlt es an Tatbestandsmerkmalen zur Verwirklichung einer Sexualstraftat. Wie bereits für den erkennbar entgegenstehenden Willen angedeutet, ist dabei häufig bereits die Schilderung der Opfer maßgeblich, in der nicht alle erforderlichen Tatbestandsmerkmale vorkommen. 

2.    Wenige oder keine Beweise: Gerade im Bereich der Sexualstraftaten ist es typisch, dass es zu Aussage gegen Aussage-Konstellationen kommt und es weder außenstehende Zeugen noch Sachbeweise für die Tat und den Tathergang gibt. Das führt dazu, dass einmal die Seite der mutmaßlichen Opfer und einmal die der Angeklagten gehört werden. Problematisch ist dabei insbesondere, dass letztere von der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung oft zum ersten Mal gehört werden. So kommt es dazu, dass diese allein auf der Aussage der Opfer beruhend Anklage erheben – mit ungewissem Ausgang. 

3.    unglaubhafte Aussagen: In vielen Fällen wird die Aussage der Opfer oder deren Entstehung als nicht konstant oder problematisch angesehen. Dies kann aus verschiedensten Gründen gegeben sein. Fehlt es an weiteren Beweisen oder  Zeugenaussagen, greift der Grundsatz „in dubio pro reo“ (im Zweifel für den Angeklagten) und es kommt zu einem Freispruch

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Im Vergleich zu anderen Delikten ist die Freispruchquote im Sexualstrafrecht signifikant hoch: So kam es bei Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung (§ 224 StGB) im Jahr 2015 bei etwa 11 % der Fälle zu Freisprüchen, bei Verfahren wegen Vermögensdelikten wie Raub oder Erpressung waren es unter 10 %. Bei Sexualdelikten können die Freispruchsquoten je nach Straftat bis zu 30 % erreichen. 

Dies hat sich auch durch die Strafrechtsreform von 2015 nicht geändert. Immer noch ist die Beweisbarkeit von Sexualstraftaten besonders schwierig, der Tatort ist zumeist die eigene Wohnung der Opfer. 


Andererseits muss jedoch festgehalten werden, dass es trotz der überaus schwierigen Beweislage in der Mehrzahl der Fälle zu einer Verurteilung kommt (etwa 70-80 %, je nach Delikt). Ein Strafprozess ist also auch im Sexualstrafrecht mit erheblichen Risiken verbunden und sollte keinesfalls unterschätzt werden. Wie viele unschuldige wegen unzutreffender Anschuldigungen verurteilt werden, ist statistisch nicht erfasst.

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Verurteilungen wegen sexueller Belästigung sind häufig

Gerade im Vergleich zu anderen Delikten ist die Zahl der Freisprüche wegen sexueller Belästigung mit etwa 30 % zwischen den Jahren 2017 und 2020 als hoch einzustufen. Es kommt verhältnismäßig häufig zu Fällen, in denen ein Freispruch erfolgt. 

Auch hier liegt dies insbesondere an fehlenden oder nicht ausreichenden Sach- und Zeugenbeweisen. Dadurch, dass der Tatbestand der sexuellen Belästigung stark subjektiv geprägt ist, bleibt es hier in der Mehrheit der Fälle bei dem Personalbeweis der beiden Seiten. 

Was bedeuten die Zahlen für Betroffene?

Gerade die hohe Zahl an Freisprüchen führt in vielen Fällen zu Enttäuschung bei den Betroffenen, die sich durch den neuen Tatbestand Gerechtigkeit in ihren Fällen versprochen haben. 

Viele Frauen- und Opferschutzverbände hatten die Hoffnung, dass durch den neuen Tatbestand mehr Verurteilungen erreicht werden könnten. Dies hat sich jedoch nur zum Teil bewahrheitet: Zwar kommt es in 70 % der Fälle zu einer Verurteilung –  das ist nicht wenig – jedoch erreichen viele Fälle nicht einmal eine Hauptverhandlung, sondern werden vorher mangels Beweisbarkeit oder wegen fehlender Tatbestandsmerkmale eingestellt

Wenn das Verfahren schon während der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen eingestellt wird, kommt es nicht zu einer Anklage. Ziel einer effektiven Strafverteidigung ist es daher oft, das Verfahren möglichst frühzeitig zum Erliegen zu bringen, um dem Risiko einer Verurteilung aus dem Weg zu gehen.

Problematisch ist auch, dass sich Mythen rund um Vergewaltigungen als überraschende Überfälle durch sogenannte Fremdtäter weiterhin halten. Dabei sieht die Realität in den meisten Fällen ganz anders aus: 

  • Mehrheitlich ist Ausgang des vermeintlichen Übergriffs eine „zunächst harmlose Alltagssituation“ wie etwa Freizeitaktivitäten, berufliche oder schulische Situationen oder es kam im Vorfeld zu einvernehmlichen sexuellen Handlungen. 
  • In der Mehrheit der Fälle besteht zum Tatzeitpunkt ein Vertrauens- oder Näheverhältnis, Angeklagter und Opfer sind miteinander bekannt oder befreundet, in einer Partnerschaft oder miteinander verwandt. 
  • In der Hälfte der Fälle ist der vermeintliche Tatort die Wohnung der Opfer, in einem Drittel die gemeinsame Wohnung von Angeklagten und Opfern.

Es stellt sich daher die Frage, inwiefern der Irrglaube, eine Vergewaltigung sei geprägt von Fremdheit und einer überfallähnlichen Tat im Freien, sich auf die Einschätzung des Gerichts zur Glaubwürdigkeit der Beteiligten auswirkt. Dies kann nicht seriös bewertet werden. Die weit verbreitete Vorstellung, dass es sich häufig um überfallartige Übergriffe handelt, ist jedenfalls unzutreffend. 

Strafverteidigung im Sexualstrafrecht: Wann braucht es einen Anwalt?

Die Zahlen zeigen: Gerade in einem Verfahren wegen Sexualdelikten sind die Chancen für einen Freispruch besonders hoch. Dennoch sollte nichts dem Zufall überlassen werden. Strafrechtliche Verfahren lassen sich nur in die Richtung eines Freispruchs lenken, wenn ein erfahrener Strafverteidiger die Unschuld des Angeklagten mit Argumenten belegt bzw. die Argumente der Gegenseite widerlegt. Es ist die Aufgabe einer ordentlichen Verteidigung, gerade die vorhandenen Beweisprobleme herauszuarbeiten und dem Gericht vor Augen zu führen.

Dies bedarf einer sorgfältigen Vorbereitung, weshalb Beschuldigte keine wertvolle Zeit verstreichen lassen sollten. Je früher ein Strafverteidiger aktiv werden kann, desto wahrscheinlicher kann eine Hauptverhandlung verhindert werden. Denn die Statistiken zeigen auch: Bis zu einem solchen Freispruch vergehen Jahre, die meist geprägt sind von Unsicherheit, Scham, psychischer Belastung, Arbeitslosigkeit und dem Verlust der Reputation. Lassen Sie es daher nicht so weit kommen!

*Quelle: Quelle: Elz, Jutta (2022). Freisprechende Urteile in Fällen sexueller Gewalt. Kriminologische Zentralstelle, Wiesbaden.

Online abrufbar unter: https://www.krimz.de/fileadmin/dateiablage/E-Publikationen/BM-Online/bm-online32.pdf