Zu Unrecht verurteilt – Gründe und Folgen von Fehlurteilen

Auch deutsche Gerichte sind nicht unfehlbar. So verwundert es nicht, dass es auch in Strafprozessen zu Fehlurteilen kommen kann. Das kann schwere Folgen für die Psyche und das gesamte Leben der Betroffenen haben. Vor allem wenn Menschen zu Unrecht wegen schweren Straftaten, wie etwa Sexualdelikten oder Kapitalstraftaten, zu langen Haftstrafen verurteilt werden.

Kommt es zu einem Fehlurteil, kann ein Wiederaufnahmeverfahren allerdings auch dazu führen, dass zu Unrecht verurteilte Angeklagte unter Umständen nach einem erneuten Prozess freigesprochen werden.

Grundsatz im Strafverfahren „in dubio pro reo“

In Strafverfahren gilt der Grundsatz „in dubio pro reo“ – im Zweifel für den Angeklagten. Wenn das Gericht nach abgeschlossener Gesamtwürdigung aller Tatsachen und Beweisergebnisse nicht die volle Überzeugung von der Schuld des Angeklagten gewinnen kann, ist der Angeklagte freizusprechen. Dabei kommt es ausschließlich darauf an, ob Richterinnen und Richter in diesem Fall rein subjektiv erhebliche Zweifel an der Schuld haben. Der „in dubio pro reo“-Grundsatz ist dabei keine Beweis- sondern eine Entscheidungsregel. Er schreibt nicht vor, wann das Gericht Zweifel haben sollte, sondern wie es bei Zweifeln zu entscheiden hat. Nämlich für den Angeklagten. 

In der Folge wird leider bei einem solchen Urteil auch oft von einem „Freispruch zweiter Klasse“ gesprochen. Als Begründung wird angeführt, dass ein Beschuldigter nicht vom Zweifel an seiner Schuld „reingewaschen“ sei.

Wir freuen uns, dass wir zu diesem Thema Gast im Podcast „ZEIT Verbrechen“ bei ZEIT ONLINE sein durften. Dort haben wir in einem „ABC des Verbrechens“ Begriffe aus dem Strafrecht vorgestellt. Hier können Sie die Podcast-Folge zu „in dubio pro reo“ hören: Strafrecht: I wie indubio pro reo (Dauer ca. 10 Minuten)

„In dubio pro reo“ stellt im Strafrecht einen wichtigen Schutzmechanismus dar, der Verurteilungen bei bestehenden Zweifeln an der Schuld des Angeklagten vermeiden will. In diesem Blog-Beitrag soll es jedoch nicht um Fälle gehen, in denen Schuldige aufgrund von Zweifeln freigesprochen werden. Vielmehr liegt der Schwerpunkt auf den Fällen, in denen tatsächlich eine falsche Verurteilung erfolgt ist, obwohl der Angeklagte die Tat nicht begangen hat. Es geht also um Situationen, in denen das Gericht irrtümlich zu dem Schluss kommt, dass die Schuld des Angeklagten zweifelsfrei feststeht. Unser Beitrag beleuchtet die Ursachen und Konsequenzen solcher Fehlurteile und zeigt auf, welche Mechanismen zu ihrer Entstehung beitragen können.

Fehlurteil: Wie kommt es dazu?

Aber wie kann es konkret zu Fehlurteilen kommen?

Menschliches Versagen kann zu einem Justizirrtum führen. Das kann bereits zu Beginn des Ermittlungsverfahrens passieren, wenn es z. B. zu einseitigen Ermittlungen kommt. Nicht selten führt ein „Tunnelblick“ dazu, dass sich Ermittlungsbehörden auf eine naheliegende (unschuldige) Person als Hauptverdächtigen konzentrieren. Weitere Spuren und Verdachtsmomente bleiben hingegen unberücksichtigt. Aber auch

  • falsche Einschätzung von Zeugenaussagen und Beweismitteln durch Ermittlungsbeamte,
  • die subjektive Wahrnehmung von Richtern oder Schöffen oder die
  • Fehlinterpretation von Indizien

können zu einem Fehlurteil führen.

Außerdem trägt das Justizsystem selbst mitunter dazu bei, dass Personen zu Unrecht verurteilt werden. Die notorische Überlastung von Ermittlungsbehörden und Gerichten kann zu menschlichem Versagen führen. Gerade unter hohem zeitlichen Druck durch eine zu große Anzahl von Verfahren kann es dazu kommen, dass der Fokus auf der Effizienz im Verfahren liegt und nicht auf der Wahrheitsfindung. So kann es letztlich auch zu Fehlurteilen kommen.

Ein weiterer nicht zu unterschätzender Faktor, der zu Fehlurteilen beitragen kann, sind fehlerhafte Gutachten und das starke Vertrauen, das Gerichte häufig in diese Expertise setzen. Gutachten – etwa aus den Bereichen der Forensik, Psychologie oder Medizin – spielen in Strafverfahren oft eine entscheidende Rolle. Sie sollen dem Gericht fachspezifisches Wissen vermitteln und komplexe Sachverhalte verständlich aufbereiten. Doch auch hier können menschliches Versagen, methodische Mängel, unzureichende Daten oder sogar (un-)bewusste Parteilichkeit zu falschen Schlussfolgerungen führen. Problematisch wird es, wenn Gerichte diesen fehlerhaften Gutachten unkritisch folgen und ihre Urteile maßgeblich darauf stützen.

Unschuldig verurteilt: Was sind die Folgen?

Die Folgen für Personen, die unschuldig verurteilt wurden, sind oft gravierend.

In erster Linie hat ein Fehlurteil schwerwiegende persönliche Folgen, vor allem bei einer Verurteilung zu einer langjährigen Freiheitsstrafe. Denn nicht nur die soziale Stellung leidet – vor allem bei einer Verurteilung im Zusammenhang mit Sexualstraftaten oder Kapitalstraftaten. Nicht selten führt eine zu Unrecht erfolgte Verurteilung auch zu einer Stigmatisierung als Straftäter, die sich ein Leben lang privat und beruflich auswirkt. Psychische Belastungen und Traumatisierung zerstören in der Folge oftmals das gesamte soziale Umfeld einer Person. Oft ist auch die gesamte wirtschaftliche und berufliche Existenz betroffen.

Fehlurteile haben aber nicht nur verheerende Auswirkungen auf die zu Unrecht Verurteilten, sondern sie ziehen auch weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen nach sich. Ein Justizirrtum erschüttert den Glauben an die Gerechtigkeit der Justiz und kann das Vertrauen in den Rechtsstaat als Ganzes untergraben. Denn ein funktionierender Rechtsstaat basiert auf dem Grundsatz, dass die Justiz fair und unparteiisch Recht spricht und Unschuldige schützt.

Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass ein Fehlurteil nicht nur einen Unschuldigen trifft, sondern dass der tatsächliche Täter nicht zur Rechenschaft gezogen wird und straffrei bleibt. Dies kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass von dem wahren Schuldigen weiterhin eine Gefahr ausgeht. Die Gesellschaft ist somit einem unkalkulierbaren Risiko ausgesetzt.

Fehlurteile sind daher nicht nur eine gravierende Ungerechtigkeit gegenüber einer Person, sondern auch ein Problem, das die gesamte Gesellschaft betrifft. Außerdem kann dadurch das Vertrauen in die Sicherheit und die Gerechtigkeit des Rechtsstaates nachhaltig beschädigt werden.

Was tun gegen ein Fehlurteil: Wiederaufnahmeverfahren

Das Justizsystem in Deutschland kennt Möglichkeiten, sich gegen einen Justizirrtum zu wehren. Auch wenn ein Strafurteil bereits rechtskräftig ist, man also keine Rechtsmittel mehr gegen das Urteil einlegen kann, gibt es eine Chance, ein Fehlurteil anzugreifen und bestenfalls einen Freispruch für eine unschuldig verurteilte Person zu erwirken. Diese Chance ist das Wiederaufnahmeverfahren zugunsten des Verurteilten (§ 359 StPO).

Bei einer sog. „Wiederaufnahme“ wird ein rechtskräftig beendetes Strafverfahren erneut eröffnet. Die Chance für zu Unrecht verurteilte Personen: Falls das Wiederaufnahmeverfahren erfolgreich ist, durchbricht es die Rechtskraft des ersten (falschen) Urteils.

Das führt dazu, dass

  • das Urteil aufgehoben wird,
  • eine verhängte Strafe nicht (weiter) vollstreckt wird und/oder
  • es zu einer Rehabilitation mit Schadensersatzansprüchen für die erlittene Haft kommt.

Voraussetzungen für Wiederaufnahmeverfahren nach Fehlurteil

Besteht der Verdacht, dass eine Person zu Unrecht verurteilt wurde, gibt es die Möglichkeit gegen ein potenzielles Fehlurteil vorzugehen und eine Wiederaufnahme zu beantragen. Damit kann eine neue Hauptverhandlung in einem an sich abgeschlossenen Verfahren erreicht werden. Die rechtlichen Voraussetzungen dafür finden sich in den §§ 359 – 373a StPO. Dort sind sowohl Gründe für eine Wiederaufnahme zugunsten (§ 359 StPO) als auch zuungunsten (§ 362 StPO) des Verurteilten geregelt. 

Falls es Sie interessiert, warum der Wiederaufnahmegrund des § 362 Nr. 5 aus der Strafprozessordnung gestrichen werden muss, können Sie hier weiterlesen.

Welche Wiederaufnahmegründe gibt es?

Grundvoraussetzung, dass eine Wiederaufnahme zugunsten eines fehlerhaft Verurteilten erfolgreich sein kann, ist vor allem das Vorliegen eines von insgesamt sechs gesetzlich vorgesehenen Wiederaufnahmegründen. 

Die Wiederaufnahmegründe lauten wie folgt:

  • Unechte oder verfälschte Urkunden im Ausgangsverfahren
  • Falsche Zeugenaussagen oder falsches Sachverständigengutachten
  • Amtspflichtverletzung durch den Richter oder Schöffen
  • Urteilsaufhebung einer Grundentscheidung
  • Vorliegen neuer Tatsachen oder Beweismittel
  • Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

In § 79 Abs. 1 BVerfGG findet sich noch ein weiterer Wiederaufnahmegrund. Dieser greift für den Fall, dass ein rechtskräftiges Strafurteil auf einer mit dem Grundgesetz für unvereinbar oder nichtig erklärten Norm oder auf der Auslegung einer Norm beruht.

Der häufigste Wiederaufnahmegrund im Fall, dass eine Person zu Unrecht verurteilt wurde, sind neue Beweismittel oder Tatsachen. Als „neu“ gilt allerdings nur, was im Rahmen des Ausgangsverfahrens noch nicht gerichtsbekannt war. Eine falsche gerichtliche Bewertung bekannter Beweise ist demnach kein Wiederaufnahmegrund.

Insofern gilt es genau zu prüfen, ob die Beantragung einer „Wiederaufnahme“ des Verfahrens sinnvoll erscheint, wenn es zu einem Fehlurteil kam bzw. der Verdacht besteht, dass eine Person zu Unrecht verurteilt wurde.

Es ist wichtig, vorab sorgfältig abzuwägen, ob die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme gegeben sind und ob die Erfolgsaussichten ausreichen, um den Aufwand und die Kosten eines solchen Verfahrens zu rechtfertigen. Mit unserer langjährigen Erfahrung im Strafrecht verfügen wir über die Expertise, solche Fälle zuverlässig und ergebnisorientiert zu prüfen.

Rehabilitation und Entschädigung

Wurde ein Wiederaufnahmeverfahren geführt und das Strafurteil zugunsten des Angeklagten geändert, besteht ein Anspruch auf Entschädigung und Rehabilitierung.

Vor allem in Fällen, bei denen Zwangsmaßnahmen erfolgten (z.B. lange Haftstrafen oder Einweisungen in die Psychiatrie etc.), kommt es zu oftmals sehr langwierigen und schwierigen Entschädigungsverfahren. Die Entschädigungszahlung erfolgt dann durch das Bundesland, in dem es zu dem Fehlurteil kam. Die Höhe der Entschädigung richtet sich je nach der Schwere des Schadens, den die betroffene Person, die zum Unrecht verurteilt wurde, erlitten hat.

Im Fall Gustl Mollath (s.u.) wurde beispielsweise eine Entschädigung von 600.000 € gezahlt. In Deutschland sind im Vergleich zu anderen Ländern der Welt Entschädigungszahlungen im Verhältnis zum erlittenen Unrecht und den sozialen und psychischen Folgen unzureichend. Oft decken sie nicht einmal die tatsächlich durch die Verurteilung entstandenen Kosten ab.

„Promintente“ Fehlurteile: Harry Wörz und Gustl Mollath

Zwei bekannte Beispiele für Justizirrtümer sind die Fälle „Harry Wörz“ und „Gustl Mollath“.

Unser Partner Johann Schwenn erstritt u.a. in den bekannten Fällen der wegen Vergewaltigung verurteilten Ralf WitteAdolf S. und Berhard M.Herbert Becker sowie Dieter Gill im Rahmen von Wiederaufnahmeverfahren erfolgreich einen Freispruch.

Unsere Erfahrungen mit Fehlverurteilungen

In unserer Kanzlei haben wir Erfahrung mit Menschen, die Opfer eines Fehlurteils geworden sind und zu Unrecht verurteilt wurden. Wir wissen, wie wichtig es ist, gegen derartige Fälle vorzugehen. Mit einer Wiederaufnahme kann im besten Fall doch die Unschuld einer zu Unrecht verurteilten Person bewiesen werden und so zu ihrer Rehabilitation beitragen.

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