Aussagepsychologische Gutachten, die die Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen bewerten, gelten in Strafprozessen als wichtige Beweismittel. Wenngleich ihnen eine hohe Fehlerhaftigkeit anhaftet, stehen sie häufig im Mittelpunkt eines Strafverfahrens. Im Sexualstrafrecht gibt es häufig sog. Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen, in denen die Aussage der mutmaßlich betroffenen Person gegen die des oder der bestreitenden Beschuldigten steht. In dieser Konstellation, in der die Zeugenaussage das einzige Beweismittel ist, kommt es für die Entscheidung maßgeblich darauf an, ob die Aussage der Wahrheit entspricht oder nicht.
Aussagepsychologische Analysen – Hauptanwendungsfälle im Sexualstrafrecht
Hauptanwendungsfälle für aussagepsychologische Gutachten sind Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs von Kindern, der Vorwurf sexueller Übergriffe und der Vorwurf der Vergewaltigung.
Innerhalb der Falschaussagen kann zwischen Fällen der ausgedachten Aussage und Fällen der Suggestion unterschieden werden. Bei einer ausgedachten Aussage (der bewussten Lüge) weiß die aussagende Person, dass sie etwas berichtet, das sie tatsächlich so nicht erlebt hat. Solche bewussten Falschaussagen sind etwa im Bereich der Vorwürfe des sexuellen Übergriffs oder der Vergewaltigung an Erwachsenen denkbar, beispielsweise aus dem Motiv der Rache oder des Selbstschutzes.
Bei der Suggestion handelt es sich um Fälle, in denen der Zeuge selbst davon ausgeht, dass er das von ihm Berichtete erlebt hat, was aber tatsächlich nicht zutrifft. Vielmehr erinnert sich der Zeuge nur vermeintlich an etwas, das so nicht stattgefunden hat, tätigt also eine unbewusste Falschaussage. Solche sogenannten Scheinerinnerungen können z. B. dadurch entstehen, dass der Zeuge infolge von intensiven Befragungen seinen Bericht den Erwartungen der Befragungsperson anpasst. Dafür sind Kinder besonders anfällig.
Beide Fälle, sowohl die bewusste als auch die unbewusste Falschaussage bedürfen der gezielten Verteidigung durch einen im Sexualstrafrecht erfahrenen Strafverteidiger. Die mitunter reflexhafte Tendenz, den Aussagen sowohl der vermeintlichen Opfer als auch der durch das Gericht bestellten Gutachter mehr Glauben zu schenken als dem Beschuldigten, muss im Sinne eines fairen Prozesses auf den Prüfstand gestellt werden.
Aussagepsychologie – Historie der BGH-Rechtsprechung
In einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) aus dem Jahr 1954 (BGH, Urt. v. 14.12.1954, Az. 5 StR 416/54, BGHSt 7, 82) legte dieser fest, dass aussagepsychologische Gutachten einzuholen sind, wenn eine Zeugenaussage maßgeblich über eine Anklage bzw. Verurteilung einer Person entscheidet. 1999 legte der BGH dann wissenschaftliche Mindestanforderungen für aussagepsychologische Gutachten fest (BGH, Urt. v. 30.07.1999, Az. 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164). Die Nullhypothese wurde dabei als zentrales methodisches Prinzip hervorgehoben.
Grundlagen der Aussagepsychologie – die Nullhypothese
Aussagepsychologische Gutachten untersuchen im Wesentlichen, ob eine Person eine bestimmte Situation so wiedergibt, dass davon ausgegangen werden kann, dass sie diese auch tatsächlich so erlebt hat. Es geht somit nicht darum einzuschätzen, ob eine Person prinzipiell vertrauenswürdig bzw. glaubhaft ist, sondern ob die situationsbezogene Aussage stimmig ist. Zu diesem Zweck bedienen sich Gutachter insbesondere der Nullhypothese.
Das Konzept, die Glaubhaftigkeit von Aussaagen mittels der „Nullhypothese“ einzuschätzen, geht auf den Psychologen Udo Undeutsch zurück, der auch weitere methodische Vorgehensweisen der Begutachtung beschrieben hat. Der BGH greift die Begrifflichkeit „Nullhypothese“ in seiner Grundsatzentscheidung von 1999 (BGHSt 45, 164) auf und erläutert darüber hinaus, wie sie als methodisches Grundprinzip zu handhaben ist. Demnach stellt sie in ihrem Kern das Gegenteil einer Unschuldsvermutung dar. Ein Gutachter soll also zunächst von der Annahme ausgehen, dass die getätigte Aussage unwahr ist und somit nicht auf tatsächlich Erlebtem basiert. Dieser Annahme stellt er dann alle aussagerelevanten Erkenntnisse aus einem Verfahren entgegen. Lässt sich die Hypothese, dass die Aussage unwahr ist, nicht mit diesen Fakten in Einklang bringen, so muss demnach die Alternativhypothese gelten, also dass die Aussage der Realität entspricht und somit als wahr anzusehen ist.
Hypothesenbildung
In BGHSt 45, 164 stellt der Bundesgerichtshof fest:
„Die Bildung relevanter Hypothesen ist […] von ausschlaggebender Bedeutung für Inhalt und (methodischen) Ablauf einer Glaubhaftigkeitsbegutachtung. Sie stellt nach wissenschaftlichen Prinzipien einen wesentlichen, unerlässlichen Teil des Begutachtungsprozesses dar (…).“
Der BGH hebt hervor, dass die Bildung relevanter Hypothesen ein wesentlicher Bestandteil der Glaubhaftigkeitsbegutachtung ist. Insbesondere bei Vorwürfen im Sexualstrafrecht können folgende Hypothesen herangezogen werden, um eine Aussage als unwahr einzustufen:
- Die Lügenhypothese: Es wurde bewusst eine komplett falsche oder teilweise falsche Aussage gemacht wurde, etwa um sich selbst zu schützen oder um an jemandem Rache zu üben.
- Die Suggestionshypothese: Es wurde eine unbewusst falsche Aussage getätigt, weil der oder die Aussagende durch andere dahingehend beeinflusst wurde.
Letzteres kommt insbesondere bei Aussagen von Kindern in Betracht, die sich gerade in sozialen Situationen mit Erwachsenen an deren vermeintlich überlegener Meinung orientieren und diese unbewusst als ihre eigene übernehmen.
Merkmalsorientierte Inhaltsanalyse
„Aussagen über selbsterlebte faktische Begebenheiten müssen sich von Äußerungen über nicht selbsterlebte Vorgänge unterscheiden durch Unmittelbarkeit, Farbigkeit und Lebendigkeit, sachliche Richtigkeit und psychologische Stimmigkeit, Folgerichtigkeit der Abfolge, Wirklichkeitsnähe, Konkretheit, Detailreichtum, Originalität und – entsprechend der Konkretheit jedes Vorfalls und der individuellen Erlebnisweise eines jeden Beteiligten – individuelles Gepräge.“ So umschreibt Udo Unrecht Merkmale glaubhafter bzw. wahrer Aussagen. Eine Glaubhaftigkeitsprüfung, die Äußerungen auf solche Merkmale hin analysiert, wird als „merkmalsorientiert“ bezeichnet. Die Aussagepsychologie spricht davon, dass solche Aussagen von „Realkennzeichen“ geprägt sind, also Merkmale enthalten, die dafür sprechen, dass es sich beim Gesagten auf die Wiedergabe von tatsächlich Erlebtem handelt.
Realkennzeichen sind bei der Beurteilung, ob eine Aussage glaubhaft ist, allerdings nur indizielle Bedeutung beizumessen. Für sich genommen haben die Indikatoren nur eine geringe Validität. Eine zuverlässige Bewertung der Aussagequalität kann sich aber aus der Gesamtschau vorhandener und nicht vorhandener Realkennzeichen ergeben.
Hinweise auf unwahre Aussagen, sogenannte „Lügensignale“, lassen sich im Umkehrschluss durch das Fehlen entsprechender Realkennzeichen annehmen. Im Gegensatz zu einer real erlebten Situation bedarf es für die Darstellung einer unwahren einer bewussten kognitiven Leistung, die oft nur dadurch aufrechterhalten werden kann, dass die aussagende Person diese weniger komplex gestaltet. Es ist also weniger wahrscheinlich, dass diese Person z. B. detailreiche Angaben macht, Unsicherheiten zugibt oder auch selbstbelastende Aussagen trifft. Umgekehrt spricht eine inhaltlich konsistente Aussage – auch in Bezug auf Angaben zu unterschiedlichen Zeitpunkten – tendenziell für deren Glaubhaftigkeit.
Eine merkmalsorientierte Analyse, die sich auf das Vorhandensein von Realkennzeichen stützt, ist nicht geeignet, um unbewusste Falschaussagen, die auf Suggestion von außen beruhen, zu erkennen. Dies zeigt sich insbesondere bei Kindern, deren Aussagen aufgrund einer Beeinflussung von außen faktisch „unwahr“ sind. Das Kind hat jedoch die ihm suggerierte Version als „real“ verinnerlicht und gibt sie dementsprechend wieder.
Kompetenz-, Fellerquellen- und Motivationsanalyse
Kommt ein Sachverständiger in seiner Analyse über die Glaubhaftigkeit einer Aussage zu einem ersten Ergebnis, so muss dieses durch weitere Methoden auf seine Stichhaltigkeit hin geprüft werden. Zu diesen Methoden gehören u.a. die Kompetenz-, Fehlerquellen- und Motivationsanalyse.
Durch eine Kompetenzanalyse wird ermittelt, ob die aussagende Person grundsätzlich in der Lage ist, eine zuverlässige und glaubhafte Aussage zu machen. Dabei wird die Aussagekompetenz geprüft, also die Fähigkeit einer Person, Erlebnisse wahrzunehmen, abzuspeichern, zu erinnern und sprachlich korrekt wiederzugeben. Die Kompetenzanalyse ist zentral für die Glaubhaftigkeitsprüfung bei vulnerablen Gruppen wie Kindern oder Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen oder psychischen Belastungen.
Im Zuge einer Fehlerquellenanalyse werden u.a. auch die Fragetechniken und Rahmenbedingungen, unter denen eine Aussage zustande kam, hinterfragt; denn nicht nur fremdsuggestive Einflüsse von Personen, die am Tathergang mittelbar oder unmittelbar beteiligt waren, können zu unbewussten Falschaussagen führen; auch der Kontext, in dem eine Aussage entstanden ist, kann deren Glaubhaftigkeit beeinflussen.
Des Weiteren soll eine Motivationsanalyse das Ergebnis der Glaubhaftigkeitsprüfung erhärten. Dabei unterscheidet die Aussagepsychologie etwa nach wahrheitserhaltenden, selbstbezogenen, fremdbezogenen und situativen Motiven. Wahrheitserhaltende Motive zielen auf eine objektive Wiedergabe der Realität ab, während selbstbezogene Motive wie Selbstschutz oder Selbstaufwertung die Aussage verfälschen können. Ebenso können fremdbezogene Motive (etwa die Belastung oder Entlastung anderer) und situative Einflüsse wie sozialer Druck oder suggestive Befragungen die Glaubhaftigkeit beeinflussen.
Grenzen der Aussagepsychologie
Die Aussagepsychologie ist keine exakte Wissenschaft und unterliegt methodischen Grenzen. Auch wenn sich aussagepsychologische Methoden für die Bewertung von Zeugenaussagen in der Praxis vielfach bewährt haben, zeigen nicht wenige Fehleinschätzungen in Gutachten, dass ihre Aussagekraft durchaus beschränkt ist. Fehlerhafte Gutachten gibt es in beide Richtungen: Unwahren Aussagen wurde Glaubhaftigkeit attestiert, tatsächlich Vorgefallenes wurde als unwahr eingestuft.
Die Verwerfung der Nullhypothese – also die Annahme, dass eine Aussage glaubhaft ist – stellt keinen Beweis dafür dar, dass das Gesagte ein reales Ereignis wiedergibt. „Glaubhaftigkeit“ ist hier also nicht mit „objektiv wahr“ gleichzusetzen.
Das gleiche gilt, wenn die Nullhypothese aufrechterhalten wird, eine Aussage also letztlich als unglaubwürdig eingestuft wird. Auch in diesem Fall bedeutet dies eher, dass man eine Falschaussage nicht ausschließen kann, nicht jedoch, dass man sie nachgewiesen hat.
Die Grenzen der Aussagepsychologie wirken also in beide Richtungen. Sowohl die Aussagen vermeintlicher Opfer als auch die von Beschuldigten unterliegen den Einschränkungen der eigenen Motivation, aber auch menschlicher Wahrnehmung und Erinnerung. Es ist daher unerlässlich, dass die Verteidigung die von Gericht bestellten Gutachten kritisch hinterfragt.
So ist allein die Auswahl eines Gutachters von entscheidender Bedeutung, da dieser die Untersuchungsmethoden und die Interpretation der Ergebnisse maßgeblich beeinflusst. Aufgabe der Verteidigung ist es hier, den – wenn auch begrenzten – bestmöglichen Einfluss auf die Auswahl eines Gutachters auszuüben. Zudem erschwert mangelnde Transparenz über zugrundeliegende Daten und Berechnungen in der Gutachtenerstellung deren Überprüfung. Umso wichtiger ist es, dass die Verteidigung alle Möglichkeiten nutzt, Fehlannahmen und methodische Schwächen im ursprünglichen Gutachten aufzudecken.
Es bedarf sehr erfahrener Anwälte im Sexualstrafrecht, um Schwächen aussagepsychologischer Gutachten zu erkennen und im Sinne der Verteidigung zu nutzen. Unsere auf das Sexualstrafrecht spezialisierte Kanzlei hat in vielen Fällen erfolgreich entgegen der Empfehlungen von Gutachten Freisprüche bzw. Strafmilderungen erzielen können.
Fazit
Fehler entstehen, wenn Gerichte die aussagepsychologischen Resultate im Sinne eines „entspricht der Wahrheit“ vs. „entspricht nicht der Wahrheit“ interpretieren und ihrer Verpflichtung, eine unabhängige richterliche Beweiswürdigung vorzunehmen, nicht nachkommen.
Bei der Verteidigung unserer Mandanten geht es darum, durch Methoden der Aussagepsychologie die Aussagen des vermeintlichen Opfers zu analysieren, bewusste wie auch unbewusste Falschaussagen aufzudecken, die Methodik des eingebrachten Gutachtens nachhaltig zu erschüttern sowie – je nach Fallgestaltung – auf die Grenzen der Aussagepsychologie hinzuweisen.
Wir verfügen über die nötige Expertise um mit Ihnen eine effektive Verteidigungsstrategie zu erarbeiten. Kontaktieren Sie uns gerne für einen unverbindlichen Ersttermin.